Gedanken eines alten Mannes beim Scheißen

»Ein Klo kann eine Heimat sein«
(zu singen nach der Melodie von Rainer Pietsch)
(die deutscheste aller Hymnen, die je auf einem Grand Prix geschmettert wurde)

»Ein Scheißhaus kann eine Heimat sein.«

Das hat keinen Rhythmus und keine Melodie. Das kann man nicht singen. Das ist Alltagsprosa. So lapidar wie möglich zu sprechen. Nebenbei. Wie die Verrichtung.

SCHEISZHAUS, Schithus, Neutrum, Kloake, Merdatorium, Tristega Forica; wofür die verhüllenden Ausdrücke Abort, Abtritt, in älterer Sprache heimliches Gemach, oder nur das Gemach, Sekret, Privet, heimlicher Ort und ähnliches üblich sind, in neuerer Sprache WC, Toilette, Klosett, Klo.

Mein Vater sagte nie Klo, nur Scheißhaus, einfach Scheißhaus; vielleicht noch, wenn Besuch da war: wo der Kaiser zu Fuß hingeht.

Durch die Waschküche hindurch links hinter dem Schweinekoben und dem Verschlag für unsere zehn Hühner, das linke Nest der Lieblingsschlafplatz unserer Katze Elke: das Plumpsklo mit einer Jauchegrube dahinter. Rechterhand ein Gang: ein Meerschweinchenkäfig, Fahrräder, ein Anhänger, das Moped meines Vaters, eine rote NSU-Weltmeister; einen halben Meter hinunter ein ehemaliger Stall für ein oder zwei Kühe, in dem Torf, Brennholz und Briketts lagerten und der Schäferhund angebunden war

Immer, wenn jemand »Scheißhaus« sagt, wird mir warm ums Herz. Das ist der Klang der Heimat in der Heimat: die Abgeschiedenheit, das Dritteldunkel, die von keinem Desinfektionsmittel verätzten vertrauten Gerüche, vom ausgeblichenen Holz des Sitzes mit seinen von der Zeit abgerundete Kanten, von den Zeitungsfetzen, die als Arschabwisch dienten.

Rodrigo Borgia, besser bekannt als Alexander VI:, genoß den Luxus eines Bediensteten, der dieses Geschäft an ihm per manum erledigte.

Rabelais behauptet in »Gargantua und Pantagruel«, es gebe keinen besseren Arschwisch als ein flaumiges junges Gänschen: »… wenn man es nämlich so faßt, daß ihm der Kopf zwischen die Beine zu liegen kommt. Ihr könnt mir das auf Ehre und Gewissen glauben. Die Weichheit des Flaums wie die natürliche Wärme des Tiers tun dem Arschloch ganz besonders wohl, welches Gefühl sich dann sofort dem Mastdarm und den übrigen Eingeweiden mitteilt und von da zu Herz und Hirn weiterdringt.«

Gegenüber diesen beiden dekadenten Varianten hatten die Zeitungsfetzen auf unserem Plumpsklo einen gewaltigen Vorteil: ich konnte sie lesen.

Alte Zeitungen landeten bei uns auf dem Scheißhaus oder zum Anmachen im Kohleofen; das tat mir in der Seele weh, weg, hinüber, jede Zeile, die ich noch nicht gelesen hatte, für immer in Rauch aufgegangen, perdu, mir ein für alle Mal vorenthalten; ich mußte schneller sein, wenn ich auf dem Klo saß, erst einmal alles lesen, ertrank es in der Jauchegrube, war es zu spät.

»Den ganzen Tach aufm Scheißhaus sitzen und lesen. Was soll aus dem Jungen bloß werden?«

Meine Sozialisation als Leser hat sich auf dem alten Plumpsklo hinterm Hühnerstall abgespielt, sie begann Ende März 1956, zwei Wochen vor meinem ersten Schultag. Die Fibel lag auf dem Küchentisch, Hans und Lotte, mein Vater mußte mich in das Geheimnis der Zeichen einführen, die Geschichten erzählen konnten, ich quengelte, bis er es tat.

Von diesem Tag an las ich alles, was mir in die Finger kam, Haferflockenpackungen, die Rundfunkzeitung, Hören und Sehen, die Bücher vom Lesering im Bücherschrank. »Wie Feuer unter meinen Nägeln« hieß der Fortsetzungsroman in der Hören und Sehen, den ich nicht lesen sollte, ich sei noch zu jung dafür, so etwas entschied meine Mutter, das beflügelte mich erst recht. Von da an nahm ich alles, was eventuell nicht altersgemäß sein konnte, mit aufs Scheißhaus und las es da – in aller Ruhe.

Meine Eltern sortierten die Bücher, die ich nicht lesen durfte und die gerade deshalb meine Neugier weckten, nach unten rechts im Schrank außerhalb des Sichtfelds der Türverglasung: Norman Mailer, Die Nackten und die Toten, Remarque, Im Westen nichts Neues, Dantes Göttliche Komödie, mit der konnte ich mit neun oder zehn noch nichts anfangen, bei den anderen nicht verstehen, warum sie nichts für mich sein sollten.

So wurde das Scheißhaus der Ort, an dem sich mir die wirkliche Welt öffnete, die erbärmliche, die Niederungen, wo man knietief watet, manchmal bis zum Hals, in dem Unflat, aus dem sie geformt wurde, diese Welt.

Die Selbstverwirklichung des Menschen kann es nur auf dem Klo geben. Es  darf aber niemand gegen die Türe wummern und die Muße stören.

Rex Gildo stürzte sich aus dem Fenster, als die Polizei an die Lokustüre pochte und ihn aufforderte, aufzumachen, ich gehe regelmäßig in die Luft, wenn ich gerade gemütlich dasitze, vor mich hin sinniere und irgendjemand wagt es, zu klingeln.

Etzold schiß damals grundsätzlich nur bei offener Tür und unterhielt sich mit der gesamten WG, gut, der ist kein Maßstab, der hat inzwischen Sarrazin auf dem Nachttisch liegen und schickt mir regelmäßig Videos mit irgendwelchem Verschwörungskram. Überhaupt, gemeinschaftliches Scheißen, auf dem pfadfinderischen bzw. soldatischen Donnerbalken, dabei auch noch zu rauchen oder einen Joint kreisen zu lassen und Latrinenparolen zu verbreiten, das ist nichts für unsereinen.

Negotium conficere, sein Geschäft verrichten, heißt es auf Lateinisch. Im alten Rom waren öffentliche Latrinen üblich, wo die Toilettengänger in geselliger Runde zusammensaßen und gemütlich miteinander plauderten. Für die Oberschicht gab es spezielle Luxuslatrinen inklusive Marmorsitzen und Fußbodenheizung. In dieser Atmosphäre hat man nicht nur sein großes oder kleines Geschäft verrichtet, sondern auch echte Geschäfte untereinander abgeschlossen.

Von mir aus kann das alles auch mit Flokati oder goldenem Vlies ausgelegt sein und vestalische Jungfrauen mit flaumigen Gänschen den Hintern putzen, ich ziehe Ruhe und Abgeschiedenheit vor. Dann kann das Scheißhaus auch ein poetischer Ort sein.

Kacheln können keine Heimat sein.

Nein, geflieste Wände und Böden, das glatte Porzellan der Wasch- und Toilettenbecken, der Geruch parfümierter Reinigungsmittel umschließen keinen poetischen Ort. Sitzen, einfach sitzen, vor mich hin und in mich hinein sinnen, das konnte ich wirklich nur auf dem alten Plumpsklo hinter dem Schweinekoben und dem Hühnerstall.

Einen Schlagertext habe ich dort geschrieben, meine Oma aus Arizona, wer kennt sie nicht, sämtliche Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen in Rom gewonnen, einen Maoistischen Brüderbund gegründet, der die Bundestagswahlen 1965 gewinnen sollte, meine Flucht in die Tschechoslowakei geplant, Schauspieler wollte ich dort werden.

Das Schwein wurde jedes Jahr geschlachtet, bis die Koteletts bei Mönchs Karl so billig wurden, daß es sich nicht mehr lohnte, das Meerschweinchen lag eines Morgens tot im Käfig, die Hühner wurden von Gänsen platt gesessen, der Schäferhund biß mir in Kopf, als ich ihm seinen Freßnapf brachte und wurde heimlich eingeschläfert, die Katze vom Vermieter, dem Kreisjägermeister, lachend erschossen. Die Kate selbst wurde vor einem Jahrzehnt abgerissen, von allen Möbeln darin überstand einzig der Bücherschrank alle Umzüge, zuletzt nicht mehr im Wohnzimmer, aber immer noch voll mit Büchern, Schuhkartons mit Fotos, abgeheftetem Schriftverkehr und anderen Erinnerungsstücken, nach dem Tod meiner Mutter hatte niemand Platz für ihn und er landete im Container.

Als die zweite Halbzeit meines Lebens angepfiffen wurde, war ich gerade auf dem Klo, vertieft in Max Goldts Titanic=Kolumne. Ich gebe zu, auch nach dem Wegzug aus der Kate habe ich auf abweisend kalt gekachelten Toiletten gelesen und mache das auch heute noch, am liebsten die Briefe an den Leser und die Humorkritik, die erledigten Fälle und Max Goldts Kolumne gibt es ja schon lange nicht mehr, aber es ist weit, weit entfernt vom Lese- und Gedankenparadies des guten alten Plumpsklos.

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