Reitende Leichen

Reitende Leichen in Unterhosen, wer hat die Totenhemden gestohlen? Kranke Schädel im Galopp, der Nordwind pfeift ein Lied, die Nebel teilen sich. Auf dem Hagenberg fliegt eine Wildsau auf einem Reisigbesen durch die Baumkronen, ihre Perlenkette funkelt im Sternenlicht: die Hl. Kunigunde, die Gemahlin des Kaisers.

Reitende Leichen klappern den Hügel hinunter, grau verblichene Skelette, grau verblichene Tücher um die Lenden gewickelt; was wollen sie noch verbergen?

13. Juli um Mitternacht, reitende Leichen in schmutzigen Windeln, allen voran der Hl. Heinrich, der letzte Ottone, ein grün-grau schimmernder Schemen nur, zweiundzwanzig Jahre König des Ostfrankenreiches, zwanzig Jahre König von Italien, die letzten zwölf Jahre seines Lebens Kaiser gar; an diesem Tag anno 1024 auf dem Hagenberg in der Pfalz Grona an Nierensteinen elendig verreckt, begraben weit weg zu Bamberg im Dom; heiliggesprochen zwar, von seinem Leichnam getrennt ist seine Seele aber auf ewig verdammt, in der Weststadt umher zu irren; zusammen mit den Geistern der Wegelagerer, die bis 1323 in der Burganlage ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten und von Göttinger Bauern mit Sensen und Knüppeln blutig vertrieben wurden.

    Reitende Leichen im Schweinsgalopp zur Düwelsbrücke, heimatlos seit dem Frühling 1387, als die Göttinger beschlossen, mit der adligen Herrschaft ein für alle Mal aufzuräumen, und Stadtburg wie Pfalz gleichermaßen zu Klump zu hauen. Seitdem sind die Flüche des Kaisers in windstillen Neumondnächten bis in die Hagenbergschule zu hören; ein Glück für die armen Kinderseelen, daß sie dort nicht schlafen müssen, verstehen freilich könnten sie seine Wutreden trotzdem nicht, ebensowenig wie sein Gefolge. Denn er spricht nur dieses fränkische Latein und höchstens Italienisch; als Diot, Theodisce, Knechtsgestalten, Lümmel beschimpft er sie, weniger wert als das Vieh in den Ställen, gerade gut genug, sie den Schweinen zum Fraß vorzuwerfen.

    Reitende Leichen in wilder Jagd die Grone entlang. Das räuberische Gefolge möchte Halt machen im Kaufpark, die morschen Lendentücher wechseln gegen frische Feinripp-Schlüpfer; Heinrich schickt ein Stoßgebet gen Himmel: selbst sieben Jahrhunderte nach ihrem Tod kann diese Bande an nichts anderes denken als an Saufen, Fressen und die Fleischeslust. »Mit welchem Knochen wollt ihr das bewerkstelligen?«, höhnt er in die Nacht hinaus, gibt es aber auf der Stelle wieder auf, weil sie seine Worte doch nicht verstehen können und kapieren sowieso nicht. »Herr, warum schlägst du mich mit diesem Pack?« »Avanti!«, brüllt er und »Ho, ho, ho!« Das begreifen sie und setzen ihm nach.

    Reitende Leichen in wilder Jagd, weiter zu den Streitäckern zwischen Grone und Rosdorf. Dort warten die Toten aus der Schlacht von 1387 auf sie, auf der einen Seite die aus dem Heer Herzog Ottos, des Quaden, unterstützt von den Erzbischöfen von Mainz, Magdeburg und Köln, den Bischöfen von Halberstadt, Hildesheim, Münster, Osnabrück und Paderborn, den Äbten von Corvey und Hilwartshausen, dem Landgrafen von Thüringen, den Herzögen Ernst von Braunschweig, Friedrich von Braunschweig, Wilhelm von Jülich-Berg, und den Städten Braunschweig, Einbeck, Duderstadt, Gandersheim, Goslar, Heiligenstadt, Moringen, Münden, Northeim und Uslar; auf der anderen Seite das zusammengewürfelte Söldnerheer der Göttinger Patrizier, geführt vom Stadthauptmann Ernst von Uslar.

    Reitende Leichen in Unterhosen, Fußvolk in Lumpen dazu, grau-bleiche Knochen in wildem Gemenge; kaum dem Rübenacker entschlüpft gehen sie wieder aufeinander los, greifen zu Ästen, Steinen, Lehmklumpen, versuchen sich noch einmal gegenseitig totzuschlagen; bis Obernjesa dringt das Kampfgetöse.

    Zwei reitende Leichen mit Feldbannern nähern sich von Hardegsen, Otto, der Quade, und Ernst von Uslar, sieben Schritte vor ihnen ein Skelett mit Landsknechtstrommel zu Fuß: Allen Ginsberg.

    Said the Military skeleton
    »Buy Star Bombs«
    Said the Upperclass skeleton
    »Starve unmarried moms«
    Said the Yahoo skeleton
    »Stop dirty art«
    Said the Right Wing skeleton
    »Forget about your heart«

    »Haltet ein!«, rufen Ernst und Otto ihren Truppen zu, als das Dreigestirn den Kampfplatz erreicht. Auf der Stelle ist Ruhe. »Give me five«, Allen Ginsberg zum Kaiser hin; der wendet sich angewidert ab. »Warum dieser Amerikaner von niederem Stand? Kann nicht einmal Walter von der Vogelweide kommen oder wenigstens der Degenhardt mit dem Joß-Fritz-Lied?«

    Reitende Leichen in Unterhosen, grau-bleiches Fußvolk, nun mit Fackeln in den Händen; der Zug setzt sich Richtung Galgenberg in Bewegung, Ginsberg trommelnd voran, hinter ihm Heinrich mitsamt Räuberbande und Kunigunde auf dem Besen, dann Ernst von Uslar mit seiner siegreichen Söldnertruppe, zum Schluß die Besiegten, Otto, der Quade, und sein adliges Heer.

    Reitende Leichen im Fackelmarsch; auf dem Leineberg kriechen die Gehängten, Geräderten und Gevierteilten aus ihren Löchern, schließen sich stöhnend und wehklagend an, Grablichter in den Knochenfingern, Aaskrähen über ihren Köpfen; Allen Ginsberg slammt noch eine Strophe.

    Said the Macho skeleton
    »Women in their place«
    Said the Fundamentalist skeleton
    »Increase the human race«
    Said the Right-to-Life skeleton
    »Fetus has a soul«
    Said Pro Choice skeleton
    »Shove it up your hole«

    Reitende Leichen in Unterhosen, das Fußvolk mit Lumpen um die Lenden, eine Wildsau mit Perlenkette, Aaskrähen, Fackeln, Grablichter; der Trauerzug zieht auf dem Stadtfriedhof ein und versammelt sich um einen Steintrog, der mit dem Anarcho-Zeichen und blutroten Graffiti beschmiert ist, Tribut an die Moderne.

    Allen Ginsberg steigt auf den Trog und schlägt die Trommel.

    Hey Father Death, I’m flying home
    Hey poor man, you’re all alone
    Hey old daddy, I know where I’m going

    Weiter kommt er nicht. Das Wehklagen der Gehenkten steigert sich zum Wutgeheul. »Blut! Blut! Wir wollen Blut!«, stimmen Söldner und Landsknechte ein. Der Haufe rückt bedrohlich näher. Der Kaiser streckt ihnen seine offenen Hände entgegen. »Prohibere! Non a gradum amplius!« Die Menge weicht murrend zurück.

    Im Osten das erste Morgengrauen. »E‘ ora di andare.« Heinrich weist auf das Klohäuschen aus morsch-grünen Brettern, im Gebüsch versteckt, nah am Weg zwischen Friedhof und Bahntrasse. Die Menge löst sich auf und bildet eine Schlange vor dem Plumpsklo, ein Skelett nach dem anderen tritt ein und verschwindet für ein weiteres Jahr, zuletzt der leise vor sich hin fluchende Kaiser. Allen Ginsberg bleibt allein auf dem Steintrog zurück und singt, bevor der erste Sonnenstrahl ihn in eine Nebelwolke auflöst die letzte Strophe seiner Skeleton-Ballade.

    Said the Network skeleton
    »Believe my lies«
    Said the Advertising skeleton
    »Don’t get wise!«
    Said the Media skeleton
    »Believe you me«
    Said the Couch-potato skeleton
    »What, me worry?«
    Said the TV skeleton
    »Eat sound bites«
    Said the Newscast skeleton
    »That’s all, Goodnight«

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    In grauen Wesernebeln (Romananfang)

    Die Krähe erhob sich scharf=flattrig vom Stoppelacker, stieg geradewegs zu mir auf, verfehlte meinen Scheitel nur knapp und krächzte: »Verloren; du bist verloren, verloren: hähähähä.«

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    Jagdhütte

    Als ich mich vor einigen Jahren beim Pilzesammeln im Wald ein wenig verirrte, stieß ich am Ende eines schon halb zugewachsenen Wirtschaftsweges auf die Jagdhütte des Bauunternehmers K., die, entschied ich, doch höchst geeignete sei, hier mitten in der »unberührtesten Natur« (H. Wader, Tankerkönig) Orgien und Feste mit verbotenen Lustbarkeiten zu feiern. Das Vorhängeschloß schien leicht zu knacken, vor Entdeckung durch Unberufene wäre man weitgehend sicher, allerdings müßte man mindestens einen Kilometer zu Fuß zurücklegen und auch alle Getränke diese Strecke schleppen. Man wäre schon erschöpft, bevor die Party überhaupt begonnen hätte.

    Deshalb ließ ich diesen Gedanken auch bald fallen und ersetzte ihn durch den Plan, den Ort in ein Kunstwerk zu verwandeln, alle Kiefern auf dem umzäunten Areal zu entrinden, sie weiß anzustreichen und die Hütte dafür innen mit einer Fototapete »Deutscher Wald« auszukleiden, ein Plan, so schön er mir als Gedanke auch erschien, den ich aus Mangel an Farbe und Mut dann doch nicht ausführte.

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    Alles Wurst

    Diese Begriffspanscherei geht mir langsam auf den Geist. Alle wollen ein Buch schreiben. Dabei schreibt niemand ein Buch. Man schreibt einen Roman, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte, eine Novelle, einen Essay, eine Biographie, ein Gedicht, eine Dissertation oder irgendeinen anderen Sachtext, aber kein Buch. Das Buch ist bloß das Medium, in dem dieser Text veröffentlicht wird. Man könnte einen Roman genauso gut auf einer Webseite veröffentlichen, auf einer Rolle Klopapier, von der die einzelnen Kapitel abzureißen wären, oder auf gegerbten Tierhäuten, ein Gedicht auf den Penis tätowieren, auf Baumscheiben brennen oder mit Hilfe von Spiritcarbonmatritzen hektographieren und von Hochhäusern in Straßenschluchten werfen, das Buch ist in den meisten Fällen nur die für die Leser bequemste Herausgabeform, das in fast beliebiger Auflage reproduziert werden und deshalb die weiteste Verbreitung erfahren kann. Wir schreiben also sehr verschiedene Sorten von Texten, die in sehr verschiedenen Medien veröffentlich werden können, und nur in einem Fall schreiben wir tatsächlich ein Buch, dann nämlich, wenn wir ein Tagebuch führen. Aber das ist wiederum nicht zur Veröffentlichung bestimmt.

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    Taschenuhr

    Weil ich erst zwei war und seine Worte nicht verstand, nahm mein Großvater Wilhelm das Geheimnis mit ins Grab, vermachte mir aber seine Taschenuhr.

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    Mariä Schluckauf

    Wie immer an Mariä Schluckauf sammelten sich betrunkene Pilger vor der Ochsentränke zu einer Prozession und schwankten in Schlangenlinien den Klosterweg hinauf.

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    Lichterketten

    Lichterketten, geh mir weg mit Lichterketten, ranzte Mao seine Witwe an und zielte absichtlich neben den Spucknapf, die Macht kommt aus den Gewehrläufen.

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    Grauschach

    Das ewige Schwarz-Weiß-Denken im Schach aufzuheben, spielten der Philosoph und sein Diener nur mit grau angestrichenen Figuren auf einem ebensolchen Spielfeld ohne eingezeichnete Quadrate gegeneinander. Nirgendwo sonst auf der Welt genössen die Bauern eine solche Freiheit, sich nach Belieben dem einen oder anderen Heere anzuschließen.

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    Bedürfnisanstalt

    Meine Bedürfnisse in aller Öffentlichkeit zu verrichten, in Gemeinschaftseinrichtungen oder bei aufgesperrter Türe, war mir stets zuwider, da ziehe ich die Beschaulichkeit des stillen Örtchens jederzeit vor.

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    Absinth=Mond

    Vor drei Monaten war es ihm zum ersten Mal aufgefallen. Der Mond spiegelt sich nur noch im Absinth. Jean-Jacques grübelte. Wie lange ging das schon so? Was war die Ursache? Gab es außer ihm noch andere Eingeweihte?

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